Betrachtungen zu Arbeiten
von Wolfgang van Elst
anläßlich der Ausstellung
in Garmisch 13.4.2003


Wenn man die Loisach entlang flußaufwärts wandert, die obere Isar oder den Ufersaum der Iller, passiert man überall an den jungen Gebirgsflüssen mächtige Kiesbette. Kiesel ohne Zahl, faustgroß und viel voluminöser, rund geschliffen, in Kugelgestalt oder mehr eiförmig, einander ähnlich sind sie sich jedenfalls alle und dennoch ist kein Stein dem anderen genau gleich. Ich muß an dieses einfache, Bronzeköpfen von Wolfgang van Elst betrachte. Sie sieht beim Abwärtsgleiten auf den Rolltreppen, eng gedrängt auf den Bahnsteigen, auf den Straßen, bei Versammlungen aller Art, dicht bei dicht, alle erscheinen von Ferne als ganz ähnlich und doch ist keiner dem anderen gleich. Die Individualität ist bei diesen Bronzeköpfen zurückgenommen, aber nicht getilgt. Man kann sie als Abstraktionen verstehen und gleichzeitig als sinnlich und sehr anschaulich begreifen - wobei ich den sinnfälligen Ausdruck begreifen betonen will.

Wenn sich die landschaftlich geprägte Anschauungsassoziation so aufdrängt, liegt die Frage nach der Herkunft des Künstlers nahe. Wer es von den hier versammelten Kundigen nicht ohnehin weiß, sei der berühmte Geburtsort verraten, der in der Nähe eines ebenfalls in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder genannten Ortes des Oberlandes liegt: In Unterammergau wurde Wolfgang van Elst vor 41 Jahren geboren.
  Und da sein Vater schon Holzschnitzer war, überraschte auch nicht die erste wichtige Lebensentscheidung, die Ausbildung an der Schnitzschule in dem also nicht ganz unbekannten Nachbarort zu beginnen. Nun ist es eine bekannte Tatsache, daß viele Bildhauer, die hier aus der schönen Region stammen oder im weiteren Umkreis tätig sind, ebenfalls ihren künstlerischen Weg in Oberammergau begonnen haben. Um nicht mit einer Namensaufzählung zu beginnen, tue ich mich hier gerechtigkeitshalber mit der Feststellung leichter, wer nicht in Oberammergau angefangen hat. Ich zum Beispiel habe einen anderen Weg genommen in anderen Landschaften. Es gibt aber auch anderswo analoge Entwicklungen. Bevor ich an die Münchner Akademie berufen wurde, lehrte ich an der Braunschweiger Kunsthochschule. Ich entsinne mich, daß dort viele unserer Studienanfänger Absolventen waren von einschlägigen Fachschulen wie der für das Steinmetzhandwerk in Königslutter. Königslutter schmückt eines der vielen wunderbaren romanischen Münster, die in Nieder- wie Mitteldeutschland glücklicherweise erhalten geblieben sind: Im Schatten dieser Dome (mit den Dombauhütten) blühte altes Handwerk - das auch in anderen Gegenden Deutschlands ein Wurzelgrund für die Kunst ist oder war.

Zum Einen, weil sich die Arbeit je nach Kontext verändert, zum Anderen, weil sich für den Betrachter (also auch für mich) jedesmal ein neuer Bezug zum Raum und deshalb auch zur Arbeit errgibt. Die Wichtigkeit des Raums, des Umfelds, nimmt daher einen immer "größer werdenden Raum" meiner Arbeit ein.
  Denn mit der Änderung des Raums ändert sich nicht nur die Arbeit, sondern auch Sehweisen. Dies ist der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Die Arbeit mit mich umgebenden Räumen, die nicht einzig als ummauerte Räumlichkeiten definiert sind; und die Beschäftigung mit Raum als Platz oder Ort. Die Veränderlichkeit des Denkens an geänderten Orten. Die verschiedene Betrachtungsweise der Dinge allein durch die Veränderung des Umfelds. Die Veränderung des Raums durch die Änderung des Sehens. Die Miteinbeziehung des Betrachters in Umgebung und Arbeit.

Doch Oberammergau hat gewiß eine besondere Stellung und ich wünschte mir - ohne hier auf den Problemkreis näher einzugehen, daß einmal eine Ausstellung zusammenkäme von ehemaligen Absolventen der Schnitzschule, die erfolgreiche freie Bildhauer geworden sind, in aller Regel über den weiteren Weg Mümchner Akademie, den auch Wolfgang van Elst genommen hat. Er studierte von 1983 bis 1989 in meiner Klasse, lange auch in der Vertrauensstellung als Klassenobmann und studentische Hilfskraft. 1987 wurde er zum Meisterschüler ernannt.

Wenden wir uns einer früheren, wie mir scheint wichtigen und sehr bezeichnenden Arbeit zu, dem großen Holzkreuz. Es ist, wie der inzwischen in Mode geratene Ausdruck heißt, eine "Dekomposition", soll heißen, das Kreuz ist zweiteilig, auseinandergelegt. Soll das das Resultat einer langen und gediegenenVorausbildung als Holzschnitzer sein? Wird mancher skeptisch fragen. Ja und nein lautet meine deutende Antwort.
  Denn bei allem Respekt vor der oft stupend erscheinenden handwerklichen Schnitzausbildung soll hier nicht verschwiegen werden, daß die auf eine Konvention zielende Perfektion auch eine Belastung für einen heranwachsenden Künstler sein kann. Das gilt ebenso auch für die inhaltliche Bestimmung. Es wird gesagt, daß ein "Herrgottschnitzer" auch im Schlafe oder mit geschlossenen Augen sein Werk vollbringen könne. In diesem Spott steckt neben Bewunderung ein Mißtrauen der Routine gegenüber, die, seien wir ehrlich, in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Kunst, aller Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit ein Ende setzen kann.

Die Passion Christi, dazu muß man nicht nur jetzt in der Karzeit erinnern, ist das zentrale Motiv der christlichen Kunst und allein schon deshalb das schwierigste. Worin besteht aber nun die spezifische Schwierigkeit für einen Bildhauer über die Geschichtslast hinaus, mit ihrer Fixierung auf Bildkonventionen? Das Kreuz gilt als abstraktes Zeichen, das Abbild des geschundenen Leib Christi hingegen liest man als Veranschaulichung des heilsgeschichtlichen Geschehens. Üblicherweise spielt man, im erzählerischen Sinne, das geometrische Symbol und die menschliche Gestalt kontrapunktisch gegeneinander aus.
Man kann aber, bildhauerisch gesprochen, den hängenden Leib und die ausgebreiteten Arme als eine formale Wiederholung sehen. Aus diesem Empfinden heraus kann man - und das tut hier Wolfgang van Elst - Kreuzesstamm und Korpus in eins setzen. Damit entrinnt er nicht nur aller Sehkonventionen, sondern er kann Anlaß geben, die Passionsgeschichte neu zu überdenken.
  Es ist nämlich sehr die Frage, ob Christus entgegen aller millionenfach verbreiteten Bildvorstellung ein Kreuz getragen hat oder nur einen Balken. Das machen uns nicht nur Historiker glauben, sondern könnte auch das Wort beweisen. Da mich die Frage selbst so beschäftigt, bin ich ihr nachgegangen. Stauros - wie im grichischen Originaltext des Neuen Testamentes geschrieben steht, wird mit Kreuz übersetzt, hieß aber seit homerischen Zeiten ursprünglich Pfahl oder zugespitzter Palisadenstamm. Warum sollte man bei diesem eigenwilligen Bild des wahrscheinlich am häufigsten vorkommenden christlichen Bildmotivs den historischen Vorgang nicht einmal neu interpretieren? Von dem "Ärgernis des Kreuzes" ist in der biblischen Überlieferung die Rede, vom Martyrion (eigentlich die Zeugenschaft) des Kreuzes, vom logos des Kreuzes spricht Paulus, was man mit Predigt vom Kreuz übersetzen kann: das sind alles Kreuzeszeugnisse für die wahre Leiblichkeit Christi in der Passion. Solche Gedanken bewegten mich, als ich dieses Kreuz vor Jahren zum ersten Mal in Wolfgang van Elsts Atelier sah. Zusammen mit seinen Bildhauerkollegen fügten wir beide Elemente zusammen, bildeten das vollkommene Zeichen von lebensbestimmender Senkrechten und ruhender Waagrechten. Diese gemeinsame Handlung des Zusammensetzens der schweren Balken geriet für einen Augenblick zum Mysterienspiel im kargen Atelier.

Damit kommt hier ein anderer Aspekt der künstlerischen Position von Wolfgang van Elst zur Sprache: seine Aufforderung zum Mittun.
  Seine eingangs erwähnten Bronzeköpfe bietet er leihweise immer wieder Freunden als einen bildnerischen Spielplatz an: Baut es auf, wie Ihr es wollt, reiht, häufelt, vereinzelt, zelebriert auf Socken, breitet auf dem Boden aus, alles, wie Ihr es wollt, sozusagen ad libitum zu spielen, wie man in der Musik sagt. Das ist bedenkenswert. Denn über den heute so beliebten appellativen Sinn hinaus folgert eine gewisse Ortlosigkeit aus diesen Gebilden. Der eiserne Rost hier und die beigefügten figurativen Balken sind beispielsweise auch ein solcher "Bausatz".

Natürlich überläßt er nicht die Anordnung dem beschworenen Spielsinn des Betrachters. Dort, wo Wolfgang van Elst das Motiv der Köpfe mit dem Medium Malerei variierend abhandelt, trifft er selbst die ordnende Hängung. Die Vielheit scheint uns lehren zu wollen: nicht das einzelne Antliz zählt, sondern die Vielzahl im zugeordneten Zusammenhang. Bemerkenswert erscheint mir nun der neue Schritt, aus dieser Reihung heraus das Thema Kopf einzeln zu behandeln, groß und auf geheimnisvolle Art. Da erblicken wir prima vista die mehr oder weniger monochrom bemalte Leinwand wie ein riesiges Fleckenbild, diffus und verschwommen. Erst bei genauerem Hinsehen erscheint in der eben doch nicht amorphen Farblandschaft ein Gesicht; auf sehr meditative Weise ist es abwesend und anwesend zugleich, die Balance haltend zwischen empfindsamer Nuancierung und offener Form.
  Ich beobachte bei Wolfgang van Elst eine ausgeprägte Leidenschaft für das Behältnid oder für den wie auch immer gearteten "Ständer", die über die Notwendigkeit des Transportes oder ausgesuchten Präsentation hinauszugehen scheint. Sie muß nicht in der Üppigkeit eines ungewöhnlichen Etuis ausufern, es kann schlicht, aber doch sehr ausgeprägt, auf jeden Fall aber integraler Bestandteil des Kunstwerks sein. Daraus spricht ein Moment des Unbehausten, das der erwünschten Wandelbarkeit Vorschub leistet. Denke ich darüber nach, so will dieses Konzept eher Suche nach dem Möglichen als nach dem Tatsächlichen sein; Sprachlich ausgedrückt, ist das die Kunst des Konjunktivs und nicht des Indikativs: Das ist nicht so, sondern das könnte so sein. In diesem Bekenntnis zum Potentiellen sehe ich auch die Chance für eine wünschenswerte Weiterentwicklung, aber eben auch die ganz spezifische Offenheit gegenüber dem Betrachter.


Hubertus von Pilgrim
 

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