Süddeutsche Zeitung
Münchener Teil
Donnerstag/Freitag 28./29. März 1991

ALS ANGEBOT ZUR MEDITATION ist bis Karfreitagabend dieses Christus-Portrait mit Rauminstallation ind der Giesinger Lutherkirche zu sehen. Rechts daneben der Schöpfer des eigenwilligen Kunstwerks, Wolfgang van Elst aus Oberammergau.

Photo: Ch. G. Knabe
 
"Anstößiger" Christus in der Lutherkirche

Die Füße liegen auf dem Altartisch, der Hinterkopf berührt den Boden. Die Arme, eine zerschmetterte, gebrochene Linie, sind weitab vom Körper ausgebreitet. Der gekreuzigte Christus des Wolfgang van Elst ist ein Hindernis, das unaufmerksame Betrachter unweigerlich zu Fall bringt. Andere, konzentriertere, geraten zumindest gefühlsmäßig aus der Bahn.

Einmal über das Kruzifix des geborenen Oberammergauers gestolpert, räumlich oder emotional, bleibt einem nur die mühevolle Auseinandersetzung. Darf man das - den göttlichen Gemarterten so darstellen, daß der Schein des ästhetisch Schönen dahin ist, der das Grauen umgibt?
 
Wer konsterniert ist, nachdenklich sein eigenes Verständnis mit dem des Künstlers mißt, der ist auf der richtigen Spur. Denn, so der Anspruch, das "Normale" soll auf seine Tragfähigkeit hin hinterfragt werden. Nur das - zu einer bestimmten, ausschließenden "schwarzweißen" Sichtweise will van Elst niemanden erziehen. Dazu hat er zuviel Respekt vor den verschiedenen Grauschattierungen der An-n-Schauungen seiner Mitmenschen.

Sein Christus, der in der Giesinger Lutherkirche für vier Wochen eine Heimat gefunden hat, schreit stumme Qual zum Himmel. Leid existiert nicht schwerelos über den Köpfen, als kurzfristiges kirchenkünstlerisches Angebot zur Meditation. Es ist wirklich hautnah. Männer werden in diesem wie in jedem Augenblick mit den Köpfen nach unten aufgehängt und bis ins Mark gepeinigt, Frauen mit Körper und Herz in Stücke gerissen, Kinder alles dessen beraubt, was sie zum Leben bräuchten.
 
Gestalt gaab dem einen Opfer, das die vielen in sich vereinigt, eine Roterle in Grafenaschau. Der Bildhauer und Meisterschüler hat sie eigenhändig gefällt. Bevor etwas Neues geschaffen werden kann, so sagt er, muß anderes zugrunde gehen. Der Corpus, wie ihn van Elst geformt hat, ist keine einfache Illustration traditioneller Glaubensinhalte. Es ist die Äußerung eines jungen Künstlers, für den das Kreuz, das man "nicht losgelöst von Kraft und Glaubensenergie sehen kann", das eigene Weltbild symbolisiert.

Der Pfarrer, der zusammen mit seinem Kirchenvorstand den am Boden zerstörten Christus nach München geholt hat, mag keinen Schonraum Kirche, an dem das Leben "draußen" vorbeipulsiert. Klaß Stüwe will die gesprächsbereite Konfrontation mit zeitgenössischen Gottesbildern, auch mit denen, die eine radikale Überprüfung voneigenen Glaubensmustern notwendig machen. Denn: Glauben ist "freuen, ärgern, ändern und wachsen..." Glaube ist Leben in der Gegenwart.
 
Morgen, am Karfreitag, ist der "anstößige" Christus noch einmal in der Lutherkirche zu sehen. Dann kehrt er zurück zu seinem irdischen Schöpfer nach Murnau, der das Leid der Welt auf beunruhigendreale Weise in einem hölzernen Kruzifix verdichtet hat.

Susanne Schullerus-Keßler
 
 
.
.
ein Kreuz für das 21. Jahrhundert
ohne Titel - Messerschneidfigur
Eli, eli lama asabthani
Christus-Hadern